Bei der Neurofibromatose Typ II handelt es sich um eine sehr seltene Erkrankung, bei der sich nicht streuende Tumore vornehmlich am Nervengewebe bilden. Durch langsames, jedoch stetiges Wachstum können Nervenzellen geschädigt werden. Oftmals betroffen sind vor allem Hör- und Sehnerven. Eine zugelassene medikamentöse Therapie zur Behandlung dieser Erkrankung existiert (wegen deren Seltenheit) nicht. Wissenschaftlich belegbare Studien, wie sie im Rahmen eines Zulassungsverfahrens nötig werden, sind ebenfalls nicht vorhanden.
In einer signifikanten Anzahl der Fälle, in denen NF2-Erkrankte mit dem für diese Krankheit nicht zugelassenen Arzneimittel Avastin (Wirkstoff Bevacizumab) behandelt wurden, zeigte sich eine deutliche Verbesserung, die teilweise über einen Wachstumsstopp hinaus zu einer Verkleinerung der vorhandenen Tumore führte. Da die Behandlung mit hohen Kosten verbunden ist, sind viele Betroffene bei der Versagung einer Kostenübernahme durch die Krankenkasse nicht in der Lage, diese erfolgversprechende Therapie in Anspruch zu nehmen. Ihnen verbleiben regelmäßig lediglich die invasiven Standardtherapien in Form der operativen Entfernung einzelner Tumore oder der Laserbehandlung. Beide Behandlungen tragen jedoch ein sehr hohes Risiko der endgültigen Nervenschädigung in sich.
Mit Beschluss vom 02.04.2012 hat das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (L 6 KR 9/12 BER) festgestellt, dass gesetzlich Krankenversicherte NF2-Patienten grundsätzlich einen Anspruch auf Behandlung mit dem für diese Indikation nicht zugelassenen Arzneimittel Avastin haben. In dem konkret entschiedenen Fall, in dem die Krankenkasse die Kostenübernahme für eine entsprechende Behandlung verweigerte und den Versicherten auf eine Operation oder eine Laserbehandlung verwies, war der Betroffene bereits nach einseitiger Operation am Hörnerv einseitig ertaubt. Infolge des Krankheitsverlaufs war nunmehr auch dringender Handlungsbedarf im Hinblick auf den anderen Hörnerv gegeben. Gegen die ablehnende Entscheidung hat der Versicherte Widerspruch eingelegt und nach dessen Zurückweisung Klage zum Sozialgericht erhoben sowie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Mit Beschluss vom 15.12.2011 hat das Sozialgericht die Krankenkasse angewiesen, die Kosten für die Behandlung zunächst für einen Zeitraum von sechs Monaten zu übernehmen (S 8 KR 225/11 ER). Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Krankenkasse hat das Landessozialgericht mit Beschluss vom 02.04.2012 zurückgewiesen.
Im vorliegenden Fall lagen sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch vor. Der Anordnungsgrund war in der Eilbedürftigkeit gegeben, da das gesamte Gehör des Betroffenen akut bedroht war. Da der mittlerweile vollständig erwerbsgeminderte Betroffene zudem nicht in der Lage sei, die Kosten für die Behandlung aufzubringen, sei jedenfalls eine Anordnung geboten. Inhaltlich müsse dem Versicherten im Rahmen des „off-label-use“ auch Zugang zu konkret nicht für die einschlägige Krankheit zugelassenen Medikamenten gewährt werden, wenn es sich um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung handle, bei der keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung stehe und eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht vorliege, dass ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg zu erzielen sei.
Im Hinblick auf die Neurofibromatose Typ II liege (je nach Krankheitsfortschritt) eine notstandsähnliche Situation vor, die bei drohendem Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausragenden Körperfunktion einer lebensbedrohlichen Erkrankung gleichzustellen sei (BSG, Urteil vom 28.02.2008, B 1 KR 16/07 R). Der vollständige Verlust des Gehörs stelle jedenfalls den Verlust eines wichtigen Sinnesorgans dar, sodass eine hinreichend qualifizierte Erkrankung vorliege. Auch die bisher vorliegenden Indizien seien ausreichend, um von einer nicht ganz fernliegenden Erfolgsaussicht ausgehen zu können. Die bisher bei anderen Patienten erzielten Behandlungserfolge, die bis zu einer Hörverbesserung und einer Tumorverringerung reichen, seien in jedem Fall ausreichend. Besondere klinische Studien bedürfe es – gerade auch für besonders seltene Krankheiten – nicht. Zudem werde das Präparat Avastin in den USA auch tatsächlich zur Behandlung der NF2 eingesetzt. Dort sei auch eine Studie indiziert.
Zuletzt stehe auch keine gleichwirksame, allgemein anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsalternative zur Verfügung. Auf eine Operation oder eine Strahlentherapie müsse sich der Antragsteller nicht verweisen lassen, da die derzeit erkennbaren Risiken aufgrund der bereits vorliegenden einseitigen Ertaubung jedenfalls bei ihm deutlich überwiegen würden. Eine Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden operativen oder Strahlentherapien sei zudem unzumutbar, da sich der Antragsteller bereits einseitig einer Operation unterzogen habe und in deren Folge einseitig ertaubt sei. Die Frage nach einer Behandlung mit dem Arzneimittel stelle sich demzufolge bei Ausschöpfung des vorhandenen Behandlungsmethoden möglicherweise nicht mehr. Demgegenüber könnten diese Methoden nach einer erfolglosen Behandlung mit Avastin nach wie vor zur Anwendung kommen.
Mit dieser Entscheidung hat das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern erstmals eine Entscheidung zur Frage der nicht indikationsgemäßen Anwendung des Arzneimittels Avastin bei der NF2 getroffen. Zwar handelt es sich lediglich um eine vorläufige Entscheidung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, allerdings wird deutlich, dass Betroffene sich gerade auch bei vorliegender Zeitnot gegen versagte Kostenübernahmeerklärungen zur Wehr setzen können. Zwar ist mit einer vorläufigen Verpflichtung der Krankenkasse zur Kostenübernahme noch keine endgültige Entscheidung verbunden. Die Frage, ob eine Kostenübernahme auch endgültig erfolgen muss, ist dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Hier wird eine endgültig Klärung des Anspruchs erfolgen. Betroffene können allerdings angesichts der vorläufigen Entscheidung darauf hoffen, dass sich die Krankenversicherungsträger mehr und mehr für eine Behandlung mit Avastin öffnen.
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